Mittwoch, 2. September 2009

Mein Tibet - Abschnitt Drei - der Text

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Organisation und Inhaltsverzeicnis der gesamten Tibet-Berichtes seht ihr unter
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Kapitel Acht Im Land Guge
Im Frühsommer beginnen wir unseren Weg vom Kailash nach Tsaparang und Tholing. Darchen ist unser letzter Aufenthalt in der Kailash-Gegend. Hier sehen wir die hohen Schneeberge der Himalayas im Süden fast von Nahem, besonders den Anapurna. Wir besuchen nochmal die Leute, von denen Li und ich ein neues Kia und andere Stücke bekommen hatte, und wir hüten ihnen noch ein paar Tage ihre Tiere und graben für sie im Garten. Diese Leute haben einen große Hündin, die gerade halbwüchsige Welpen hat. Eins nehmen wir mit, zuerst muß der kleine Rüde Walpi noch oft getragen werden, er wäre zu langsam für unsere Gangart. Doch noch bevor wir im Westen der Himalaya-Kette an die Schneeberge kommen, ist das nicht mehr nötig. Denn Hunde sind ja sehr eifrig im Umherrennen, Walpi auch, und er ernährt sich bald selbst, fängt sich kleine Tiere und ißt Möhren, die er ausgräbt. In den Dörfern müssen wir aufpassen, daß er nicht in die Gärten geht und sich da nimmt, was er mag, müssen ihn an ein Band nehmen, was Li besonders gerne tut, sie liebt den Hund und schläft meistens mit ihm in ihre Felle gewickelt.

Wir wandern nun in einer breiten, staubigen Ebene, hinter der sich die große, weiße, zackige Hochgebirgs-Kette erhebt. Weil es hier flach und tief ist, sehen wir die Ländereien davor kaum: weit hinten, mit den dünnen, grünen Streifen fruchtbarer Plantagen davor, wo die warmen Quellen fließen. Den Weg die Ebene entlang ... eine Ansammlung von sich immer wieder verzweigender Pfaden, auf dem wir über die sandige Ebene gehen, und auf dem wir Handelskarawanen begegnen, die fast alles auf Yak-Büffeln und Schafen transportieren, wie überall in Tibet. Pferde haben sie nur zum Reiten, kleine flinke Pferdchen. Wie ich höre, gehen die meisten Karawanen nach Himachal und Kashmir in Indien — der Weg, den wir auch gehen wollen, über die schwierigen Pässe. Zu jeder größeren Karawane gehört ein besonderer Yak, der — stolz wie mir scheint — eine bunt geschmückte Kiste trägt, die aufgeklappt einen Altar ergibt, mit einer Figur des Buddha. Mindestens zwei mal am Tag wird die Kiste herunter geholt, und die Menschen sammeln sich um den Altar und singen und sitzen still, und sie führen persönliche Gespräche mit dem Buddha und lassen sich in ihren Sorgen beraten. Und dann kochen sie ihren Tee, den sie auf den Rückwegen aus Indien mitbringen.

Sie singen die alten Melodien, besonders die Zufluchtnahme, das Zufluchtsliedchen „ich gehe zu Füßen des Buddha, ich gehe zu Füßen des Dharma, ich gehe zu Füßen der Gemeinschaft,“ oder in der uralten Palisprache, in der der Buddha gesprochen haben soll:

„Buddham sharanam gachchami
Dhammam sharanam gachchami
Sangham sharanam gachchami“

Rundherum in der Ferne zackige Berge und Felsen. Ich zeichne wie Tsering vor einem der großen Berge sitzt:
Bild 22: Tsering winkend, die vielen Unterröcke, der Gurla-Mandata-Berg

In unserer Nähe ist das flache und leicht hügelige Land gelblich und rötlich pastellfarben, trocken und staubig und weit ausladend — da verwundert es mich sehr, wie es vor uns plötzlich abbricht und ein tiefes, sehr breites Tal unter uns erscheint, die Wände sind fast senkrecht, und ich muß aufpassen, nicht hinunterzurutschen, denn immer wieder brechen Stücke der Hochebene ab und rutschen rasselnd nach unten. Ein hellblauer Fluß, er verzweigt sich ähnlich wie unser Weg, das ist der Langtsch-hen Khambab, den sie in Indien Satletsch [Sutlej] nennen, der aus dem Rakshasa-See kommt und weiter nach Himachal hineinfließt, und an dem wir noch lange entlang gehen werden. Auch an seinen Ufern sind breite grüne Streifen von Wäldern und Äckern und Obstplantagen, und feine Dörfer mit grauen Dächern auf den weißen Häusern, ja die ganze Talsohle ist grün.

Ich habe gehört — und wir werden es später noch sehen —, daß der Langtsch-hen sich in tiefen Schluchten einen Weg quer durch den Himalaya gebrochen hat, den er benutzt für das Fließen nach Indien. — Ach, das ist so eine Art, die Natur zu beschreiben, die mir nicht liegt, doch es klingt so schön fantastisch!

Erst gehen wir noch oben am Absturz entlang und suchen einen Weg nach unten ins Tal, denn dort geht die Karawanenstraße nach Tholing. Tholing heißt eine alte Stadt, die es schon lange nicht mehr gibt, und die neuere Stadt in der Nähe nennen sie Zhanda, auch schon seit langer Zeit.

Wir sehen morgens Nebelschwaden am Fluß — ich denke, hier begegnen sich die Wasser der warmen Quellen mit den kalten Winden aus den Schneegebieten, und daher der Nebel!

Erst sind wir auf der höheren Ebene, doch da unten, wo sich der Fluß schlängelt, ist noch eine Ebene, es sieht aus, als ob hier eine Ebene auf die andere gelegt worden wäre. Aus der unteren Ebene ragen noch kleine Überbleibsel der oberen Ebene in Form von steilen Türmen, die ebenso hoch sind wie die obere Ebene. Auch Tsering war noch nie hier. Er ist erstaunt. Wie wir im Tal ankommen, ruft er gewisse Sprüche, die als Echo von den steilen Wänden zurückschallen, und seine helle Stimme trägt weit. Manchmal tragen diese Türme Ruinen von Burgen oder Klöstern.

Tsering klettert auf einen dieser Felstürme und kommt nach langer Zeit zurück und holt einen blau-grünen, glänzend polierten Stein aus seinem Mawah, „das war das einzige, was ich gefunden habe, ich mag ihn, und ich will ihn meiner Mutter mitbringen. Er war zwischen den alten Mauern in Staub und Sand vergraben, deswegen glänzt er noch so. Mit dem Fuß scharrte ich im Sand, und da lag er plötzlich — wunderbar, nicht wahr? Ich glaube, ein Gott hat ihn mir zukommen lassen, was denkst du? Er hat sogar ein Loch zum befestigen. Und wie ich aufsah, flog gerade ein Adler weg.“

Tsering spricht wenig, er lacht und singt und jubiliert, aber sprechen? „das hat meistens wenig Sinn.“

Bevor wir in Zhanda ankommen, bleiben wir am Fluß ein paar Tage, es ist hier wärmer als oben, und wir genießen das langsame Wasser und schwimmen später darin umher. Gleich schon bindet Tsering seinen Yak an einen Baum am Fluß und zieht sich aus und läuft ins Wasser, planscht fröhlich umher und jauchzt vor Freude. Ich sitze am Ufer und genieße diesen Anblick des jungen Körpers, Tsering kommt heraus und stellt sich breitbeinig vor mich hin und sagt, „bin ich nicht schön?“ {Bild 18, Bild 19}. Dann wendet er verlegen seinen Kopf und meint ernst, „nein, nicht ICH bin schön, sondern ich habe einen schönen Körper, ist das nicht richtiger?“ Er murmelt dabei, „Tsering, Tsering, Tsering, ich bin Tsering,“ eine Art der Selbsterkenntnis und Selbstdarstellung, die wir in Europa nicht mögen, die ich in Asien oft erlebe, besonders bei jungen Leuten.

Li ist sehr erstaunt über seine Sprüche. Doch sie mag nicht so über sich sprechen, hat viel Zurückhaltung gelernt. Springt auch nicht so umher wie Tsering, immer wieder geht sie zu einem unserer Tiere und kuschelt ihren Kopf in die dicken Felle. „obwohl ich bei euch bin, fühle ich mich manchmal einsam,“ schluchzt sie einmal, bis wir beide sie in die Arme nehmen.

Bild 23: Tsering nach dem Bad im Langtsch-hen Khambab – 
„bin ich nicht jung?“

Doch Tsering dreht und wendet sich und lässt uns seinen Körper von allen Seiten bewundern, schließlich stellt er sich vor mich hin und zeigt mir, wie jung er ist, „ich bin doch ein Kind, nicht wahr? Das ganze Leben möchte ich ein Kind bleiben — und so stark und klug und erfahren wie jetzt schon. Und Li darf auch nicht mehr fehlen“ Lachend springt er zum Baum, an den er seine Kleider gehängt hat.
Bild 24a: Tsering nach dem Bad, „Ich bin Tsering“

Ein paar Post-Reiter kommen vorbei, halten an und freuen sich wie ich, und einige springen auch in den Fluß. Die Pferde dürfen trinken, ich sehe, sie möchten auch baden, doch sie tragen die Post und damit die Verantwortung und werden nicht ins Wasser gelassen.

Auf diesen Straßen finden die Postdienste statt: Im ganzen Land gibt es diese Pfade, nicht sehr breit doch gepflegt von den Behörden und mit einer großen Menge an Dhak-Häusern versorgt. Dhak ist ein altes Wort für Post. Immer wieder treffen wir einzelne Reiter oder ganze Karawanen mit Pferden oder Maultieren, die Briefe und andere Sendungen befördern. In jeder Ortschaft sind diese Poststellen, in den Dhak-Häusern, wo diese Tiere gehalten werden, damit die Postreiter wechseln können. Yaks werden als Post-Tiere nur in Gegenden benutzt, wo Pferde nicht leben können: in großen Höhen und im Schnee — und natürlich geht es damit viel langsamer. Diese großen Poststraßen jedoch — die meisten in diesen Flußtälern — werden schneefrei gehalten. Es wird große Sorgfalt verwendet, damit die Tiere nicht überanstrengt werden, es gehört zur Moral der Tibeter, in jedem Tier die achtenswerte Seele zu erkennen und zu pflegen. Ein alter Spruch fragt, „hat dein Pferd Buddha-Natur?“, die Antwort „ja“ liegt jedem Tibeter sofort auf der Zunge. Jedes Tier hat Buddha-Natur, nur wir Menschen müssen das erst lernen, jeder Mensch von Neuem, immer wieder erarbeiten.

Doch nun zurück auf unseren Weg bei Tholing. Eine Frau in Zhanda, in deren großen Garten wir unsere Tiere stellen dürfen, und die uns auch Platz zum Schlafen überlässt — alles im Garten — erzählt uns, daß unsere Kleidungsart erst in den vergangenen 200 Jahren aus dem Süden — sie meint von der anderen Seite der Himalayas —, aus dem Land Bhutan hierher gekommen ist (doch auf alten Bildern tragen manche Tibeter das Gho auch, also auch hier uralte Sitte). Für dieses Klima, finde ich, ist das sehr angenehm. Im Winter ziehen sie noch weitere Kias darüber und wickeln Tücher um den Kopf, manchmal sehen sie aus wie aus lauter Stoffen und Pelzen bestehend. Nur selten ziehen die Tibeter in dieser Gegend Hosen an, sie sagen, das wäre ihnen zu eng. Frauen und Männer sind etwa gleich gekleidet, und solange ich nicht die Stimmen höre, kann ich jüngere Frauen und Männer nicht unterscheiden, da die meisten Männer, die jünger als 40 sind, kaum einen Bartwuchs haben und ihre Gesichter weich aussehen − wie ja bei vielen Männern der mongolischen Rassen. Doch, einen Unterschied habe ich im Laufe der Zeit gefunden: die Mädchen und Frauen bewegen sich eleganter, leichter.

Im alten Tholing, in Sichtweite vom Städtchen Zhanda, ist ein Kloster mit ein paar antiken Gebäuden, und wie wir hineingehen finden wir sehr sorgfältig angelegte Hallen, in denen große Gemälde an den Wänden sind. Es ist eine ähnliche Stimmung wie in Sukhavati im Tempel und in fast jedem Ort und Kloster: warmes rot und beige, still, eine große Buddha-Figur, gegenüber sitzen viele in Stille versunkene Leute, Bauern, Hirten, Arbeiter und Handwerker, Handelsleute, junge und alte, Kinder . . . — eher ein paar mehr Frauen als Männer, und viele junge Leute. „Das alles hier ist so alt, daß wir uns nicht erinnern,“ sagt eine alte Nonne, „tausend Jahre lang oder mehr zerfielen die Tempel, doch dann hatten wir wieder genug Freude daran, alles zu retten aus jenen alten Zeiten.“ Still sieht sie in ihren Schoß, bewegt die Hände ineinander. Dann sieht sie auf, und zu uns hin:

„Die Bilder, die ihr hier seht, sind aus mineralischen Farbengemalt, und die halten ewig, möchte ich sagen. Es dürfen bloß keine kriegerischen Horden hier einfallen, die Gier nach Zerstören haben — und das ist in den alten Zeiten ja oft passiert. Besonders wenn moslemische Reiche oder auch das chinesische Reich die Vorherrschaft hatten. Ihr seht noch die runden Flecken da an der Wand: da haben sie reingeschossen in ihrer Wut — doch ihre Wut war wohl nicht so groß, oder sie haben sich geschämt, ich weiß nicht. Schon lange ist alles repariert und wird genutzt wie früher, die Löcher haben wir als Mahnung gelassen, sie gehören zu unserer Geschichte. Die Buddha-Statue ist unversehrt, kein Einschuß! Das war ein Hinweis auf die Zukunft.“

Du sagst, sie gehören zu unserer Geschichte. Wie meinst du das? frage ich.

„So wie wir heute sind, alles das ist doch durch den Ablauf der Ereignisse gekommen. Wir sind daran beteiligt, haben mit gestaltet oder auch mitgelitten, mitzerstört, wenn andere Völker hier einfielen — oder wir bei anderen Völkern einfielen. Und das wollen wir nicht vergessen. Wir wollen nicht aus einem Nichts gekommen sein. Was heute ist, hatte ja irgendwann eine Bedeutung als Neues, auch die Einschußlöcher.“ Mir gefällt das: sie finden sich an ihrem Platz in den Läufen der Zeiten. Vieles war, vieles wird sein — und hier, genau hier und jetzt sind wir, ein Moment, und dann geht es weiter. Ich beginne, das Wertvolle zu begreifen, das das Zeit-Denken bringt. „Doch wenn du ganz zu DIR finden willst, dann lass diese Sache mit der Zeit einfach los,“ sagt sie, und das bringt mich wieder in Verwirrung, doch dann merke ich: ja, auch das ist ein Stück Lebenskunst: mal denken wir in Zeit, mal nicht, im Wechsel mit den Bedürfnissen des Augenblicks.

7. Bericht: über die Zeiten
„Du denkst doch, es gibt keine Zeit. Aber was war gestern oder als du klein warst, ein Kind, was ist seitdem abgelaufen? Wieso ist das heute anders?“

So kann man hin und her diskutieren, aber das ist ja — für mich jedenfalls —, nicht mehr, als wenn wir `Zeit´ einfach so im Kopf denken, diskutieren. Wenn ich nicht diskutiere, wenn ich ganz still bin im Kopf, dann ist eben auch keine Zeit. Ist das zu einfach? ... Wenn ich nun sterbe, ist dann die Zeit vorbei? Endgültig und `für immer´ vorbei? Wenn es mich nicht mehr gibt, gibt es also auch keine Zeit mehr.

Auf meinen Wanderungen nächtige ich mal auf einem hohen Berg, er gehört, glaube ich, zu den nördlichen Vorbergen der Himalayas. Weit unter mir — in einem weiten Talkessel — liegt das Kloster, das ich vor ein paar Tagen besucht habe, nun sehe ich nur ein paar Lichter und Nebel im Klostertal. Über mir greller Mond und Sterne, und ich fühle die Unendlichkeit, ja auch die Ewigkeit — alles im Anblick dieses riesigen Himmels voller glänzender Sterne. Mal wieder tritt es auf: „gibt es Zeit?“. Ein weicher Bausch von Gefühlen — nein, kaum Gedanken — legt sich um mich:

Mit dem Tod kommt die Auflösung dieser Form (Körper und so), vielleicht auch die Auflösung der Zeit: Schon lange habe ich das Gefühl, in einer ewig langen Zeitreihe ein Stückchen dieses Lebens zu leben. Lass´ jetzt mal offen, was `Zeit´ ist. Dieses Gefühl der Zeitreihe ist die einfachste Form meiner Einordnung in die gesamte Existenz. So fängt es mal an: dieses Gefühl, daß Zeit eine Linie ist, entlang der wir leben. Da war ein Beginn, habe ich gehört, mit meiner Geburt. Und da wird ein Ende sein, plötzlich, mit meinem Tod, habe ich auch gehört. Und dazwischen?

Doch der Begriff  Zeit in Form einer langen Linie ist — eben — die einfachste Form, damit umzugehen. Das geht relativ einfach mit wissenschaftlicher Methodik, ist als Zeichnung oder in Formeln einfach abzuhandeln und darzustellen. Mir kommt es aber so vor, daß das sehr unwirklich ist, . . .  und daß von meinem gegenwärtigen Punkt aus Zeit sich in alle Richtungen, sozusagen diffus ausbreitet oder zusammenzieht. Oder daß sie chaotisch ist wie eine wabernde Verwirbelung von Rauch, der von einem Feuer aufsteigt, oder sowas. Vielleicht könnte es so möglich sein, in andere Zeiten hinein hell-zu-sehen, Wandeln in den Zeiten. Ich aber kann´s nicht, aber da mir diese Formulierung eben so einfiel, will ich mal darauf eingehen.

Wenn ich also an die Vorgänge (oder sowas) im Bardo denke, verliert sich die Zeit. Das ist uns ja bekannt. Die im Leben klar eingeteilte Zeit verliert wahrscheinlich ihre Struktur, ihre Maßeinheiten (Jahre, Tage  . . . ) und weitet sich unendlich aus oder so was. Sie verliert alle Maße. Wenn auch im tibetischen Bardo Thödol noch immer von Tagen gesprochen wird, . . . doch ich habe den Eindruck das ist ein Hilfsmittel für die Leute, die drumrumsitzen um die/den Sterbende. Wie sonst sollen sie sich miteinander verständigen? — Ebenso beginnt das Leben mit einer unendlichen Zeit, wie wir sehen, wenn wir an unsere Kindheit denken, die in unserer Rückschau aus der Unendlichkeit kommt, also nicht aus einer Art Zeit. Erst im Verlaufe der Jahre beginnen wir in die Zeit eine Struktur zu bringen. Im Tod, scheint es mir, ist es einfach umgekehrt.

Ich habe auch gehört, daß alte Menschen mit dem Altern auch ihre Zeit Tag für Tag loslassen und auch in dieses Wabern versinken (wie die wabernde Verwirbelung von Rauch).

Still liege ich und sehe versonnen in die strahlende Sternenwelt — dann schrecke ich auf von einem lauten Donnerschlag. Was ist nun? Unten aus dem Talkessel quillt eine weiße Wolke hoch, auf mich zu, der ganze Kessel ist gefüllt mit diesen Wolken. Und dann kommt eine Donner nach dem anderen, und in den Wolken zucken Blitze umher, gleich gefolgt von ihren Donnern. Die weiße Wolke kommt höher, es wird nebelig um mich, doch dann zieht sie sich wieder zurück und nimmt mir doch nicht den Blick auf die Sterne, und bald ist alles vorüber, ich sehe die Klosterlichter wieder, keine Donner, keine Blitze mehr. Ja, ein warmer Wind kommt hoch und erfreut mich.


Was ist das, in Stille versunken? Die Leute hier kehren sich nicht nach innen mit geschlossenen Augen, wie bei uns, oder wie auch Li, sondern sie werden einfach ruhig, gelassen, aufmerksam, sind nicht `versunken´ . . . Mit großen, offenen Augen sitzen sie, sehen ein wenig umher, nehmen alles wahr und lassen sich nicht ablenken von ihrer Stille. `Still sitzen, nichts tun, der Frühling kommt gewiß, und die Sonne scheint von selbst´ wiederhole ich mir diesen alten Spruch mal wieder. Sie sitzen nicht nur im Tempel sondern immer, wenn sie nichts tun müssen oder nicht gerade miteinander reden und singen. Das Wandern ist auch in Stille, sie reden wenig dabei, sind nach innen gekehrt, und dennoch aufmerksam. Vielfach murmeln sie auch ihre Mantras, die hilfreichen Sprüche. Oder sie beten — wie schon immer — zu Göttern. Oder sie murmeln Verschwörungssprüche, um sich böse Geister — wie sie sagen — abzuwehren. Innen sind sie also nicht ganz so still. Bei vielen Tibetern ist aber die Bewegung in ihrem Geist geordneter als bei uns. Da ist es leicht, auch ganz still zu sein.

Immer noch aber gibt es Kräfte, die diese Ordnung im Geist der Tibeter (und anderer geistigen Menschen) verwirren wollen — so wie vor alten Zeiten immer wieder die Herrscher des chinesischen Reiches oder Europas. Was deren Ziel ist, wird hier nicht verstanden, und es tut ihnen sehr weh.

Doch wie gesagt: die Leute in den staatlichen Verwaltungen sind nicht so still wie die meisten Tibeter, sie sind ein wenig aufgeregt, hektisch manchmal, sie sind anders als die meisten auf dem Lande.

Am Abend gehen wir in den großen Tempel von Tholing, und nachdem wir still gesessen haben, beginnt eine sehr tiefe Stimme zu summen, der Mann summt Mantras, das sind einfache Strophen der Hingabe. Er steht in einer Ecke der großen Halle, es kommen einige Männer zu ihm und summen mit bis ein Chor entsteht. Dann sammeln sich Frauen an einer anderen Stelle und summen auf ihre Art, bald im Wechselspiel mit den Männern. „Buddham sharanam gachchami ...“

Ich lasse mich in den Gesang fallen und werde ganz still. Tsering steht auf und geht zu den Frauen und Mädchen und singt dort. Später am Abend sagt er, „später, irgendwann mal, werde ich bei den Männern mitsingen, aber nun  . . .  Dann wird meine Stimme auch so schön tief sein wie von dem Mann vorhin.“ Und er versucht ein paar brummige Laute, doch es geht nicht. Lachend geht er und macht ein Feuer für den Tee. Und Walpi legt sich ans Feuer und genießt das Warme und Knistern. Li umarmt Tsering und meint, „so wie du jetzt gerade bist, mag ich dich sehr — ob mit hoher oder tiefer Stimme  . . .  ist alles so schön  . . . “

Früher waren die Gebäude einfach eckige Kästen, von außen gesehen, sie wirkten stark aber nicht anheimelnd — habe ich auf alten Wandbildern gesehen. Doch die heutigen Tempel, Klöster, ja auch die meisten Häuser, sogar die Zelte der Nomaden, sind geschmückt, äußerlich auch eckig, aber die Eckigkeit ist aufgelöst durch die meist geschwungenen Bilder. Ich vermute, sie haben nun mehr Zutrauen und wagen, ihre Stimmung auch nach außen zu zeigen: das Weiche, das Tiefe  . . .

Oft sehe ich das alte verflochtene Symbol, aus einem Seil erdacht, ein nicht endender Knoten, übersichtlich aber eben doch ein Knoten — „wie das Leben so ist, verflochten ...“ sagt die Frau in Zhanda. Doch auch andere Symbole, oder sorgfältig gemalte Bilder des Buddha, oder von Dämonen oder Göttern und manches, was ihnen einfällt, finde ich. Es ist lebendig und bunt bei den Tibetern — „das ist doch ein schöner Gegensatz zu der Einfachheit dieses Landes,“ sagt sie auch, „oder zu der Eckigkeit der Felsen.“

In einer anderen Halle zieht mich am meisten ein riesiges Bild des Dschampa (Maitreja) an. Es muß uralt sein, denn es ist in einer anderen Art als spätere Bilder gemalt.

Aus den Ruinen der längst vergangenen Zeiten haben sie Neues gemacht, vielleicht reicher als früher zu den Blütezeiten des Reiches Guge. Schon vor langer Zeit gelang ihnen, neue Tempel zu bauen und die alten zu sichern und ihre schönen Gemälde zu bewahren. Doch nicht um die Schönheit geht es ihnen. Sie wollen ihre eigene Seele sehen und pflegen — DAS ist es —, und dazu haben schon die Alten viele Dinge erfunden, die in der Stimmung der Tempel wirken. Und das Neue Tibet — das ja auch schon alt ist — hat diese Traditionen übernommen und weiter gepflegt  . . .  nachdem sie sich nach dem Abzug dieser kurzen aber heftigen chinesischen Oberherrschaft wieder frei genug fühlten — ich meine nicht die politische oder administrative Freiheit sondern die innere Großzügigkeit alles zu tun, was gerade richtig und hilfreich ist, ganz so zu sein wie es der eigenen Natur entspricht, jeder Mensch auf die ganz eigene Art — das mochten die chinesischen Herrscher nicht, bei ihnen war alles eher auf die Massen eingestellt, oder auf die Nützlichkeit, . . .

. . .  „doch wir haben diese schrecklich nüchternen Gedanken schon lange wieder abgelegt,“ höre ich von der chinesischen Pilgerin aus Tsingtau. „Unsere Oberen hatten damals einfach nicht verstanden, daß Menschen etwas anderes wollen — und wir Chinesen sind ja nie anders gewesen, wollten immer das Schöne, Bunte, Lebendige. Sieh dir mal unsere Kunst an, besonders die Kunst der Tao-Leute des Lao-Tsu.“ Wir haben uns in Zhanda wiedergetroffen, auf der Wanderschaft treffe ich oft Leute wieder.

In einem Garten in Zhanda ist an diesen Tagen unser Lager, eine Hecke schützt vor dem Wind. Wie wir am Feuer sitzen und den Tee genießen, fragt Tsering, „mögt ihr meine Haare? Sind sie lang genug zum Flechten? Flechte mir doch auf jeder Seite einen Zopf, ich möchte mal wie ein Mann aussehen — erstmal wie ein junger Mann.“ Ja, das ist hier die Sitte der Nomaden, Männer tragen ihr Haar in zwei Zöpfen an den Seiten, Frauen aber einen dicken Zopf hinten. Jungen tragen aber noch nicht die zwei Zöpfe, ihr Haar hängt lose, kurz oder lang, oder wie bei den Mädchen hinten in nur einem ganz dicken Zopf. Tsering hat sein Haar lang wachsen lassen, damit er sich endlich mal in Zöpfen zeigen kann.

Ihr könnt euch denken, daß das tägliche Zöpfeflechten bei den Tibetern viel Zeit braucht, und sie helfen sich gegenseitig, so wie ich auch Tsering heute helfe — ein sehr rührendes Spiel an jedem Morgen! Ein Spiel, das mich in eine fürsorgliche und besonders freundschaftliche Simmung bringt. Ich trage keine Zöpfe, denn meine Haare sind — noch! — zu kurz. Und, in meinem Alter wachsen sie langsamer. Li und ich wechseln uns ab, und mit Li´s Zopf ist es ebenso.

„Ein Spiel, ein lustiges Spiel,“ singt Tsering, und er dreht sich im Kreis und lässt die Zöpfe fliegen.


Bei Tsaparang ist das Tal des Langtsch-hen Khambab-Flußes noch mehr zerrissen als bei Tholing. Alte Ruinen von Tsaparang haben sich auf einer hohen Bergklippe erhalten, auf einem solchen Fels-Turm. Da war schon früher der große Tempel, und dann haben sie Teile davon wieder hergerichtet. Einige Wandgemälde sind noch erhalten — uralt sind sie, dennoch: in all den Jahrhunderten haben die Leute sich bemüht, Dächer über den Gemälden zu halten — und das Ergebnis ist: noch immer haben sie ein paar der sehr alten Gemälde. Rundherum aber ist Neues, Buddhahalle der Stille, die schönste, die ich bisher sah. Warum eigentlich schön? Muß das sein, um einfach nur still zu sein? Ich glaube es so.

Und auch Li sieht das so, und sie sitzt halbe Tage still in diesen Tempeln, mit weit offenen Augen. Manchmal summt sie und bewegt ihre Hände in anmutigen Gesten. Sie haben Kissen in die Tempel gelegt. Da es so kalt ist, wickelt Li sich ein dickes, rotes Wolltuch über den ganzen Körper. Tsering aber streift lieber umher, mit Walpi auf den Fersen oder voraus. „sieh mal Li, was ich für dich gefunden habe  . . . “ und er hält in der Hand einen runden, roten Flußkiesel, „der ist für die Frauen, rot in der Frauenfarbe.“


8.Bericht: über das Sterben in Tibet: „sie wollen ihre eigene Seele sehen und pflegen“ — Sterberitual
Immer wieder höre ich die Tibeter sagen „erkenne dich selbst“ oder ähnliches. Sieh hin, wer du eigentlich bist, wie dein Wesen beschaffen ist. Das Sterben ist die letzte Gelegenheit dazu — und die größte. Die Vorbereitung auf das Sterben — während des ganzen Lebens bereiten sie sich darauf vor — dient zur Selbsterforschung, dient der Erfahrung dr Echtheit des Lebens.

Hier in Tsparang treffen wir eine jüngere Nonne, die uns fragt, ob wir an einem Sterberitual teilnehmen wollen. Li und ich gehen mit, und sie führt mich in ein Haus, wo ein junger Mann an einer schweren Krankheit stirbt. Doch vorher geht sie mit uns in einen kleinen Tempel mit knarrenden Türen, wo an die Wände viele Gemälde gemalt sind. Doch die folgenden Bilder sind von anderen Orten.

Zuerst zeigt sie uns die schönen Bilder, Gottheiten in bunten Gewändern, Göttinnen und Götter in inniger Umarmung, auch tanzend, rundherum chinesische Gärten mit Musikern, lebendigen Vögeln und Fischen und Landtieren rundherum, und tanzenden Kindern in bunten Gewändern. Es ist, als ob ich die Vögel und die Kinder singen höre. Viele Blumen in allen Formen des Aufblühens und Wiederverwelkens und alles dazwischen, große Schmetterlinge und andere Insekten — alles ist zu sehen.

 Bild 24b: fröhlicher Musikant im Buch "Vergessene Götter Tibets"
von van Haan & Stirn (Seite 91)

Sie deutet auf die Bilder und erklärt, „der Sterbende wird zuerst an diese Bilder erinnert, die ihm begegnen als Zeichen der guten Taten und Erlebnisse in seinem Leben.“ Wann begegnen sie ihm? frage ich. „Eigentlich von selbst nachdem der Körper ihn verlassen hat. Doch wir erinnern ihn daran in der entsprechenden Zeit. Denn nicht jeder Mensch hat sich im Leben darauf vorbereitet.“

Bild 24c: Diener des jungen Siddharta (später Buddha) im Buch "Vergessene Götter Tibets"
von van Haan & Stirn (Seite 120)


Und dann zeigt sie mir schreckliche und häßliche Bilder, Göttinnen und Götter, schreckliche, blutsaufend und ihre Schwerter schwingend, eingehüllt in schreckliche Flammen. Dämonen will ich diese Figuren lieber benennen. Schreckliche, wütende, zornige, bissige Dämonen, mit bluttriefenden Schwerten in den Händen. Solche Bilder hatte ich zwar schon gesehen und bin ein wenig daran gewöhnt. Doch schaudern tut es mich immer wieder, ich kann es nicht wirklich beschreiben, so furchtbar ist das alles, ich zittere und bin nahe dem Weinen. Und Li kauert sich in eine Ecke und verhüllt ihr Gesicht, „das kann ich nicht ansehen“ — „brauchst du nicht, aber nun weißt du, wo du diese Bilder finden kannst, wenn es dir mal not tut“.

 
 Bild 24d: Zorniger Dämon im Buch "Vergessene Götter Tibets" von van Haan & Stirn
(Seite 92 unten)

 Bild 24e: Zorniger Dämon im Buch "Vergessene Götter Tibets" von van Haan & Stirn
(Seite 56)

 Die Nonne erklärt, „ . . .  wir wollen uns klar machen, was auch in unserem Innern ist, nicht nur das Angenehme, auch dieses. Heute abend werden wir uns am Feuer vor meiner Hütte treffen, dann werden wir mehr darüber sprechen, ja?“

Wir gehen zum sterbenden Jüngling, und ich erlebe — Tsering klettert in der Zwischenzeit mit Wampi auf einen der Felsen — wie die Hausgemeinschaft um den Jungen herum sitzt und trauert und weint. Die Nonne beruhigt die Leute und meint, das würde ihm kein Nutzen sein, ihm eher alles schwerer machen.

Li sagt leise zu mir, „ich habe schon oft Menschen sterben gesehen, es ist oft ein feines Erlebnis, manchmal auch ungut, hier vielleicht auch, fühle ich“.

Und so wird die Nonne — und Li geht oft mit — an noch weiteren Tagen hingehen und den Sterbenden bis weit über sein Ableben hinaus begleiten und ihm alles erklären, „seiner Seele erklären. Die Seele kann mich noch weiter hören, jedenfalls gehe ich davon aus.“ An ihrem Feuerchen und bei Tee spricht sie weiter, Tsering ist zurückgekommen und hört staunend zu, staunend wie Li und ich auch. Ich habe mich dick in Felle eingewickelt, es ist mir schauerlich zu Mut, und mein Körper zittert.

„Vieles Unschöne in unserer Seele haben die Künstler in dem Tempelchen in die Bilder gebündelt. Wir betrachten diese Wandgemälde immer wieder in unserem Leben, von Kindheit an, sie sind Teil unserer inneren Bilder. Sie sind fester Teil unserer Erinnerungen. Wir lernen, alle häßlichen Erfahrungen im Leben in dieses Kapitel unserer Seele einzuordnen, zusammen mit diesen Bildern. Dann ist Ordnung, könnte man sagen. Ich möchte dieses Kapitel mal `das Furchtbare´ nennen, das `Kapitel des Furchtbaren´. Es gibt auch manche andere, wie die Kapitel des Schönen, der Liebe, der Fürsorge und viele mehr. Doch es ist nicht so wichtig, sie besonders zu pflegen, denn sie pflegen sich von selbst, das ist ein Naturgesetz, denke ich. Das Schöne ist eine dem Menschen angeborene Eigenschaft.“

Woher kommt denn das Schreckliche alles? frage ich fröstelnd. Und ich ahne schon, daß wir uns das im Leben selbst eingebrockt haben, durch unschöne und häßliche Taten, oder auch nur schlechte Gedanken, Pläne, Beurteilungen an unrechter Stelle, Verdammungen  . . .  Doch auch Erlebnisse, die von außen kommen, und mit denen wir nicht fertig werden konnten, die sich als Erinnerungen in uns festgesetzt haben. Noch heute wirken solche uralten Erlebnisse in den tibetischen Seelen nach (das ist wohl bei allen Menschen so). Erlebnisse aus Zeiten der Kriege und Aufstände — zum Beispiel während der langen chinesischen Besetzung damals, oder als Moslemheere das Land Guge zerstörten.

„Und die Häßlichkeiten sind meist sehr starke Erinnerungen, sie setzen sich durch, wenn es darum geht, unser Leben zu verstehen, was ja beim Sterben geschieht, bevor unser Körper uns alleinlässt, uns allein zurücklässt. Und da kommen die Erinnerungen aus diesen furchtbaren Kapiteln sehr bald heran und durchziehen die Zeiten des Sterbens, sie sind dann sehr gegenwärtig, mögen sich leicht in den Vordergrund drängen.“

„Weil wir das Ganze aber kennen — wir kennen es durch das Betrachten dieser Bilder im ganzen Leben, das gehört zu unserem Lebensstil —, sind wir nicht so erschrocken wie zum Beispiel du und Li wäret. Dieses ist alles in unserem Bewußtsein während des Lebens.“

Wann macht ihr das? frage ich sie. „Ja, wie ich sagte, wir wollen unsere Seele erkennen und pflegen. DAS ist es, was wir tun, wenn wir die Tempel besuchen. Nicht nur still da rumsitzen für nichts. Beim still Sitzen hört ja alles andere Denken auf, nur der reine Blick ist da. Dieser Blick in alles, was da innen in mir ist, aber wenn wir nicht denken oder fühlen, was bleibt da noch zu sehen? Was sehe ich? Und da sehe ich dann diese verschiedenen Kapitel, auch das Kapitel `das Furchtbare´ wie ich es nenne. Wenn es sehr voll ist, rückt es in den Vordergrund.“ Habt ihr da nicht Angst in diesen Tempel zu gehen? frage ich, dennoch gehen die Leute immer wieder hin. Das ist doch schrecklich.

„Ja, und deswegen gehen wir so sorgfältig mit unserem Leben um, wir gestalten unser Leben so, daß sich möglichst wenig `Furchtbares´ in der Seele festsetzen kann, wir versuchen, sie rein zu halten. Da sind wir bewußt, am besten immer bewußt.“

„Ganz ist es im Leben nicht zu vermeiden, daß Schreckliches eindringt und sich festsetzt. Doch durch die eigenen Taten oder das Seinlassen gewisser Taten können wir erreichen, daß wenig in diesem Kapitel ist. Das ist unsere Lebenskunst.“


Mir ist klar, daß das wirklich reine und hohe Lebenskunst ist, mehr noch. Diese Leute fühlen sich heimisch in der unendlich langen und vielfältigen Reihe von einzelnen Leben, oder auch hierhin und dorthin fliegend in der ganzen Existenz. Sie fühlen sich nicht losgelöst als einzelnes, vereinzeltes Wesen, nicht heimatlos ohne Halt im leeren Weltall schwebend wie wir es oft erleiden. Hier haben alle eine Heimat — in ihrer Seele, oder in der Seele der Natur oder der Existenz oder einer Gottheit, wie sie es sagen.

Deswegen sind diese Leute wohl so eindeutig und ausgeglichen, leiden selten an seelischen Krankheiten. Das ganze Leben ist also auf diese wenigen Augenblicke des Sterbens ausgerichtet — gehen sie da nicht an den Wirklichkeiten des Lebens blind vorbei? „Nein, nicht so sehr, denn diese Lebenskunst gestaltet ja unser Leben, das Leben besteht aus dieser Lebenskunst. Das ist der Kern unserer Kultur. Und das Wesentliche des Lebens ist ja das saubere Sterben, so denken wir oft. Und — wenn ich das will — die Neugeburt in ein weiteres, gutes Leben. Das ist dann das `saubere Geborenwerden´.“

Dann — so scheint mir — ist euer Sterben eine Art Mittelpunkt des Lebens, die kraftvollste Situation, dann kommt ein neues Leben, und in der Mitte ist der Tod . . .  „oder richtiger:  das Bardo,“ ergänzt sie.

Ich spüre, daß ich hier die wesentlichste Nachricht der Tibeter an die Menscheit höre. Und bin traurig, daß wir anderen Menschen da so wenig zuhören mögen. Ja sogar versuchen, den Tibetern den Mund zu verbieten.

„Mit dem Sterben sind wir nicht abgeschnitten vom Leben vorher oder den Mitmenschen  . . .  Sterben ist ja zwar das Leben verlassen. Oder der sterbende Körper verabschiedet sich von mir. Erstmal bin ich da allein, doch bald bin auch ich gestorben.“ Was bleibt denn da noch? Was oder wer durchwandert denn den Zwischenzustand, das Bardo? frage ich.

„Ja, da ist was, da bleibt was, denn wir sehen ja oft, wie ein neuer Mensch etwas aus einem früheren Leben mit herübergenommen hat, eine Erinnerung, einen Charakterzug, die anderen erkennen ihn wieder, er findet einen anderen Menschen, eine Landschaft wieder  . . .  Wir sagen, es ist das Grundsätzliche des Bewußtseins, das weiterwandert, also vielleicht sowas wie eine Werkstatt des Bewußtseins. Ein Archiv, je nachdem, bei wem das ist. Gerade in den ersten Lebensjahren kommt das noch heraus. Ist wohl ziemlich unterschiedlich von Mensch zu Mensch. Später könnte der Mensch das vergessen, deswegen pflegen wir diese Erinnerungen, erhalten sie für später. Doch das Meiste geht schon in der frühen Kindheit verloren. Die Erwachsenen schreiben alles auf, was die Kleinen so von sich geben. Und dann kann es doch noch Erinnerungen geben, in späteren Jahren. Und die sind wertvoll. Um sich selbst zu verstehen, den eigenen Charakter zu verstehen  . . . wo kommt das alles her, was ich bin, wer bin ich, wo komme ich her?“

Nach einer langen Pause in Stille beim knisternden Feuer sagt die Nonne:

„Das hört sich alles sehr ideal an. Vielen Menschen geht es aber nicht so gut, und der Gang durch die Bardo-Zeit wird ihnen sehr schwierig. Und wenn sie das nicht elegant meistern können, kann das nächste Leben nur noch schwerer werden. Ein Ziel unseres Staates ist aber, das möglichst jeder Mensch spirituell ganz gesund — sage ich mal — geboren wird und bleibt. Das meine ich wenn ich sage, `elegant meistern´. Nur dann kann ein Volk in innerem Frieden und in großer Liebe leben.“

Für mein Verstehen ist DAS der ideale Staat.

„Für dieses Ziel gebe ich viele Hinweise an den Sterbenden, besonders, wenn er noch so jung ist. So finden wir unser Leben eingebettet in eine lange Reihe von Leben, getrennt durch die Zeiten des Bardo, so nennen wir die Zeit zwischen zwei Leben.“


„Wenn aber einer vorzieht, den Kreislauf der Leben ganz zu verlassen und `ins Nirvana einzugehen´, muß er sich im Leben besonders vorbereiten — das wird kaum möglich sein ohne als Nonne oder Mönch zu leben. Mir scheint, das ist ein schönes aber selten zu erreichendes Ideal.“

Nun finde ich es fast gemütlich, sich eingebettet zu wissen in diese lange Lebensreihe. Mir wird wärmer, und ich lege ein paar der Felle zur Seite. Li stellt noch eine Frage: „wer befindet denn darüber, wie eine Tat oder ein Gedanke oder ein Erlebnis im vergangenen Leben zu beurteilen ist?“ „das ist vielleicht verwunderlich für dich:“ sagt die Nonne, „du beurteilst das selbst. Du selbst bist die einzige Behörde, sozusagen, die das beurteilt, du bist dein eigener Richter. Wer sonst? Denkst du etwa, das sei tatsächlich die Aufgabe dieser Göttinnen und Götter oder gar des Buddha? Oder gar des Staates? Nein, nur du selbst kannst das, denn es ist ja DEIN Leben, es ist voll DEINE Verantwortung. Es gibt — so denken wir uns das — niemanden sonst, der da Verantwortung für dich übernehmen kann.“

„ . . .  jedenfalls ist das unsere Lebensart.“

Und nun wird mir bewußt, daß die bei uns noch manchmal gepflegte Sitte, Gott oder jemanden sonst zum Richter zu bestellen, eine Flucht vor dem Ernst der eigenen Verantwortung ist: `Gott der große und übermächtige Vater´,   . . .  daß es eine ungeprüfte Behauptung [Hypothese] ist, meine ich.


Das Sterben kann doch nicht das Ziel des Lebens sein, zweifelt Li noch mal. „In gewissem Sinn schon,“ sagt sie, „denn eine einzelne Lebenspanne ist ein sehr begrenzter Teil der gesamten Existenz, viel ist vorher, viel ist nachher. Uns ist bewußt, daß vor der Geburt und nach dem Tod vieles ist, an dem wir irgendwie auch beteiligt sind, jeder von uns, doch genauer erkennen wir das meistens nicht, nur ganz wenige Menschen können das.“

„Ich fühle mich als kleines Teilchen des Ganzen, eingebettet in die unendliche Länge des Ganzen, kommend aus der Unendlichkeit, weiter fortlaufend in die Unendlichkeit. Deswegen ist auch dieses eine Leben, das ich lebe und erlebe, nur eine Phase in dem Ganzen. Sterben und Tod aber andere Phasen, jede solcher Phasen oder Zwischenzustände nennen wir ein `Bardo´.“

Redest du wirklich von einer Unendlichkeit: `unendliche Länge des Ganzen´? Ich kann mir Unendlichkeit nicht denken. Doch klar ist mir, daß auch das längste Sein vor oder nach dem Leben nicht unendlich sein kann. Also kann es auch keine `unendliche Länge des Ganzen´ geben. Irgendwo muß ein Anfang, irgendwo ein Ende sein. Das könnte mit einem Schlag sein oder allmählich. Mit `das Ganze´ meinst du vielleicht Zeit und Raum und was dazu gehört — wie Denken, Naturgesetze und so weiter, oder? Sie nickt langsam, als ob sie über diese Worte noch nachdenken müsste.

Ein Hirte oder Bauer, der dabei steht, sagt zu mir, „das kannst du nicht sagen: `mit einem Schlag oder allmählich´, denn diese Begriffe gehören zur Zeit, aber wenn es keine Zeit gibt, dann sind sie fehl am Platz.“

Er spricht nun zur Nonne: „Ein Mensch ist ohne unendliche Seele, sowas gibt es nicht, kann es gar nicht geben, weil es für die lebenden Wesen eine Unendlichkeit überhaupt nicht geben kann. Alles ist endlich und gehört in einen Rahmen aus Zeit. Nur deswegen kann es für den Menschen ein Nirvana geben, er kann wieder verlöschen, er kann wieder verschwinden, vollständig, nämlich in der Unendlichkeit. Selbst wenn es noch weiterhin Zeit gibt. Dieses, was wieder verlöschen kann, nannte der Buddha Anatta oder Anatma, also keine unendliche Seele.“

„Eigentlich darf ich auch nicht sagen `in der Unendlichkeit´, denn nichts kann in der Unendlichkeit sein.“

„Unendlichkeit ist aber jenseits jeder Zeit; ja, das stimmt. Zeit ist begrenzt – wenn auch so groß, daß wir sie als unendlich empfinden, mit unserem kleinen Geist. Also die Unendlichkeit ist nicht begrenzt, eben: ohne Anfang und ohne Ende.“

„Doch eine Seele kann für eine mehr oder weniger lange Zeit ins Bardo des Todes gehen und wieder hinaus in eine neue Existenz, und so hin und her, aber nicht für immer, nicht für unendlich. Irgendwann ist das Nirvana ihr endgültiges Schicksal. Nirvana aber ist ein Hilfsbegriff und liegt nicht im Bereich der Endlichkeit oder der Zeiten. So gesehen ist Nirvana NICHTS. Vielleicht können wir auch sagen, Nirvana gibt es nicht.“

9.Bericht: bei einem alten Mann, der sterben wird
An einem anderen Tag gehen wir zu einem alten Mann, der im Leben Schlachter war, dieser Beruf ist in Tibet etwas Häßliches, und die Leute tun einem leid, die ihn ausführen müssen. Aber die Leute sind da hineingeboren, ist eine Tradition ihrer Gruppe. Die Nonne gibt mir weitere Unterrichtungen.

„Vieles, was wir Menschen tun, hängt mit dem Töten von Tieren zusammen, auch wenn viele nie Fleisch essen  . . . “

„ . . .  und WIE wir sie töten. Zwar ist es schön für die Seele eines Menschen, nie Lebewesen zu töten oder auch nur zu quälen. Doch ist das nicht ganz zu vermeiden. Aber wenn wir Tiere töten, haben wir bestimmte Rituale, wir erzählen der Seele des Tieres davon, daß sie bald wieder in eine neue Existenz kommen wird, und daß wir ihr wünschen, daß das eine angenehme Existenz werden wird — und lauter solche Dinge. Die `Lebenskunst´ könnte man auch `Seelenpflege´ nennen. Ja, so tun wir das.“

So habe ich es gesehen: soll ein Yak geschlachtet werden, schmücken sie ihn mit bunten Bändern und Tüchern und gehen an einen schönen Platz, und dann töten sie ihn, der tote Körper wird erst nach ein paar Minuten aufgeschnitten, wenn — so denken sie — sich seine Seele an den neuen Zustand gewöhnt hat und `davon fliegen´ kann. „Das ist Teil der Vorbereitungen, um die eigene Seele nicht unnötig schwer zu belasten. Dennoch bleiben da viele furchtbare Erinnerungen hängen. Darum also geht es uns bei der Seelenpflege.“

„Wir versuchen diese `furchtbaren Dämonen´, denen wir in uns begegnen, zu besänftigen, indem wir mit ihnen sprechen, ihnen kleine Dinge opfern, klar ihre Bilder vor unserem geistigen Auge erscheinen lassen, sie schmücken und schön machen. Sie werden weniger häßlich, ja harmlos. Sie können uns Freunde werden.“

„Andererseits ist es oft so, daß diese Dämonen viel furchtbarer und häßlicher sind als auf den Bildern. Es ist die Kunst der Seelenpflege, sie harmlos und zu Freunden zu machen.“

„Doch beim Sterben erscheinen uns alle, auch solche, an die wir im Leben nie gedacht haben. Aus allen Ecken und Winkeln der Seele kommen sie hervor und zeigen uns ihre häßlichen Fratzen. Alle kommen ohne Ausnahme, es ist das große Reinmachen. Klar, es kommen auch die anderen, schönen, geliebten Erinnerungen hervor, doch um die brauchen wir uns nicht zu kümmern, sie sind kein Problem. Sie können sogar ein Gegengewicht zu den häßlichen Erinnerungen sein, sie können mildernd wirken. Sogar können sie das Sterben schön machen, denke ich.“

„Meine Aufgabe als Sterbehelferin ist es, dem sterbenden Menschen dieses alles noch mal vor Augen zu führen, ich erzähle ihm alle Phasen, in denen er gerade ist und versuche sie gemeinsam mit ihm zu erkennen und aufzulösen. Weil wir Tibeter uns im ganzen Leben mit diesen Bildern vertraut gemacht haben, ist das leicht. Bei dir wäre das unmöglich, weil dir diese Bilder fehlen. Doch mit ein wenig Seelenpflege, die du hier tun kannst, wäre es immerhin möglich, dir zu sagen: sieh, das sind alles nur deine eigenen Bilder, von dir selbst erschaffen, da ist nichts wirklich Furchtbares von außerhalb, alles ist von dir selbst gemacht. Es ist alles in deiner eigenen Verantwortung. Und wenn du das sehen kannst, wird das Sterben leicht. Dazu bin ich da.“


Wir gehen zum Haus des sterbenden Mannes, wo schon ein paar seiner Freunde versammelt sind, um ihm `das letzte Geleit zu geben´ wie sie sagen, mit bunten Tüchern oder — wenn sie welche finden — Blumen. Die Nonne setzt sich neben sein Lager und beginnt all das zu sagen, was ich schon beschrieben habe. Ihre Worte sind allen bekannt, es ist nichts Neues, er wird sich von früher her leicht an sie erinnern. Hier ist eine feierliche Stimmung, mit Duftkräutern haben sie vorsichtig eine reine Luft im Raum geschaffen, ihre Büschel hängen an den Wänden, ganz leicht werden die Duftkräuter angewendet.

Jemand macht eine Musik wie der Sterbende sie sich früher mal ausgesucht hat, einfach und warm. Auch legt die Nonne mal eine Hand auf seinen Körper, ganz leicht, um ihn auch auf diese Weise daran zu erinnern, daß jemand da ist. Wie er seinen letzten Atemzug getan hat, spricht sie weiter alles das, was zu diesem Zeitpunkt des Sterbens gehört, es geht immer wieder darum, ihn zu erinnern, wo er nun ist, „höre mir nun genau zu, Gampo, es ist nun die Zeit, daß du dir einen neuen Weg suchst. Du hast in den nächsten Tagen die Möglichkeit, erleuchtet zu werden und ins Nirvana einzugehen und nie wieder ein Mensch sein zu müssen. Aber du kannst auch eine neue Geburt mit Absicht wählen und den Platz und die Mutter und die Gemeinschaft dazu aussuchen.“

„Alles, was dir in den nächsten Tagen begegnen wird, ist nicht wirklich. Sondern es sind Bilder, die in deiner Erinnerung sind. Nimm sie an und versuche sie zu lieben, auch wenn sie schrecklich sein mögen.“

„Das Schönste aber, das dir begegnen wird, ist dieses große `Klare Licht´. Dieses Klare Licht ist deine Leerheit, ist das `Shunyata´, ist der Ort, in dem du nun bist.“

„Und nun erlebst du wie dein Körper schwer in die Erde einsinkt, wie er unter Druck von der Erde umgeben wird, doch bald löst er sich in Wasser auf.“ Und so geht es weiter, bis sie ihn darauf aufmerksam macht, wie „dein Körper nun in reine Bewußtheit aufgeht — sonst ist nichts mehr da. Und das ist das Klare Licht, das `Zweite Klare Licht´.“

„Höre mir aber weiterhin genau zu, Gampo. Lass dich nicht ablenken. Nun erkennst du, `ich bin nun tot, wie gut, daß ich nun tot bin und nicht mehr Schlachter sein muß´. Du kannst nun sehr glücklich sein.“

„Nun wirst du verschiedene farbige Lichter erkennen, in die du getaucht bist. Jedes Licht bezeichnet ein Schweres und auch ein Schönes in deinem vergangenen Leben. Sieh sie dir an und erkenne sie. Wenn du versuchen solltest, sie abzulehnen, und denkst, damit habe ich nichts zu tun, dann wird es schwerer für dich werden, dann wirst du länger brauchen, bis du dein Ziel erreicht hast.“

„Und mach dir immer wieder klar, daß das alles nur Bilder sind, die mal in deinem Gehirn entstanden sind und nun noch nachwirken, sie sind nicht wirklich. Du brauchst also weder Angst zu haben, noch brauchst du dich über die Bilder zu freuen.“


Sie sagt ihm auch, in welcher Phase des Sterbens die Seele sich gerade befindet. Da sind immer wieder Scheidewege, die Seele kann sich entscheiden, alles zu verstehen, und dann hat sie die freie Wahl, wie es nun weiter geht.

Oder die Seele fürchtet sich und kann die Bilder nicht annehmen sondern lehnt sie ab, ärgert sich oder kämpft gegen sie — dann geht es weiter nach einem Sterbemuster, das die Natur in uns angelegt hat. In diesem Fall wird die Seele in ein dunkles unergründliches Chaos rutschen und schließlich das Bewußtsein verlieren [den Übersetzern scheint es, daß dieses die alte christliche Vorstellung des Todes ist].

Wenn die sterbende Seele sich aber die freie Wahl offen lässt, geht sie den Weg, den sie sich vorher im Leben vorgenommen hat, geplant hat, zum Beispiel als Kind einer Hirtenfamilie im Changthang geboren zu werden — wie mein Freund Tsering. Und die Nonne sagt, weil sich die Seele im Leben meistens die ihr bekanntesten Verhältnisse aussucht, wird sie in der Nähe ihres alten Platzes und ihrer Familie geboren werden. Doch sie könnte sich auch anderes geplant haben, wie zum Beispiel:

„Vielleicht aber möchtest du in einem nächsten Leben ein `Bodhisattva´ werden. Dann kannst du den Weg dahin schon jetzt planen, suche dir eine Gemeinschaft, eine Mutter, einen Kreis von Freunden aus, bei denen du diesen Weg verwirklichen kannst.“

(Über Bodhisattva werde ich im Abschnitt Vier etwas schreiben)

Und sie kann sich auch geplant haben, daß dieses nun die letzte Existenz gewesen sein soll, und dann gibt es die Möglichkeit, den Kreislauf der Geburten zu verlassen und ins Nirvana zu gelangen — worüber ich oben schon geschrieben habe. Ich möchte mal sagen: das wäre das endgültige Sterben ...

Nicht nur dieses, was ich bisher beschrieben habe, hat einen Einfluß auf den Platz des neuen Lebens. Auch, was die Seele im bisherigen Leben Gutes oder Schlechtes getan hat — oder noch andere Taten —, scheint den neuen Platz mit zu bestimmen, das nennen sie hier die Lehre des Karma. Das kann noch mehr sein als die Sache mit den furchtbaren Dämonen. Zum Beispiel sagt die Nonne, „wer im Leben an Malerei interessiert war, wird es im neuen Leben auch sein.“

Die Nonne sagt dann, „meine Arbeit ist hauptsächlich für die Leute, die sich im Leben nicht ausreichend vorbereitet haben, was oft ist, wenn sie im Leben nachlässig waren oder nicht so viel Zeit hatten oder sehr jung sterben. Doch weise wäre es, gut vorbereitet zu sein, und dann ist eine Sterbehelferin nicht so wichtig, dann kann so ein Mensch auch problemlos allein sterben.“

Außer den Wandgemälden haben sie in Tholing viele Figuren, die aus Lehm gemacht und bemalt sind. Dazwischen stehen in kleinen Nischen Skulpturen des Buddha und anderer Aspekte ihrer Geistigkeit. Sie sind aus Bronze gemacht. Sie seien uralt und wurden über die langen Zeiten der Niedergänge gerettet, vielfach vergraben in Kästen, die vor Nässe schützten. Eine sehr geheime Tradition (die nicht in Worten ausdrückbar ist) hat die Angaben über die Orte, an denen diese Dinge vergraben waren, weiter überliefert. Als die Zeiten wieder gut waren, haben sie alles ausgegraben und wieder in die Tempel gestellt. So kommt es, daß hier nicht nur neue sondern auch ganz alte Kunstwerke den Menschen helfen, sich in der seelischen Welt zurechtzufinden. Das ist vielleicht schwer zu verstehen, deswegen gebe ich das mal einfach so weiter wie mir das erzählt wurde.

Und — in den Zeiten der Unterdrückungen wurden sehr viele der Dinge ins Ausland gebracht, wo sie die Zeiten überdauerten, in den Schränken der Kunstliebhaber, aber auch auf den Altären solcher Menschen, die sich zu der tibetischen Art der seelischen Pflege und Heilung hingezogen fühlten. Als Tibet begann wieder aufzublühen, kam manches wichtige Stück aus dem Ausland wieder zurück, dort Jahrzehnte lang bewahrt für die Zukunft.

„Das ist eine sehr große Leistung all der Menschen, die auf der ganzen Erde unsere seelische Kunst bewahrt haben — für die Zukunft der Menschheit, und wir fühlen uns seitdem dankbar verpflichtet, die alten Botschaften an die ganze Menschheit weiterzugeben.“

Das Sterben haben Li und Tsering still und gespannt verfolgt, sie saßen zusammengekauert in der Ecke des Zimmers im Haus der Familie. „ich fühle mich nun wie eingebettet in das Ganze des Lebens, ein winziger Teil des großen Lebens, ganz dazu gehörend,“ sagt Li nachher, „sehr dankbar bin ich für dieses Erlebnis.“ Li ist eine kleine, sehr weise Frau, denke ich und bin froh, daß sie bei uns ist.

Nach diesen langen Tagen in der Gegend von Zhanda und Tsaparang wandern wir weiter entlang des großen Flusses, den sie hier Langtsch-hen nennen, und der den Himalaya durchbricht um in Indien ins Meer zu fließen. Obwohl der Fluß tief im Tal fließt, müssen wir hoch über den Schipkipass laufen, der nun unser nächstes Ziel ist.

Den folgenden Abschnitt 4 findet ihr hier: http://mein-tibet-vier.blogspot.com/


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